Am 12. September 2024 reichte Dr. Lucina Uddin, Neurowissenschaftlerin und Professorin an der UCLA, eine wegweisende Sammelklage gegen die sechs größten profitorientierten wissenschaftlichen Verlage sowie deren Branchenverband ein. Die Klage Uddin v. Elsevier et al., eingereicht beim US-Bezirksgericht für den östlichen Bezirk von New York, behauptet, dass die Verlage sich abgesprochen hätten, um Vergütungen zu unterdrücken und den Wettbewerb im akademischen Verlagswesen einzuschränken, was ein möglicher Verstoß gegen das US-amerikanische Sherman Antitrust Act ist. Sollte die Klage Erfolg haben, könnte sie die Art und Weise, wie wissenschaftliche Forschung veröffentlicht, begutachtet und weltweit verbreitet wird, grundlegend verändern.
Die Beklagten und die Vorwürfe
Die genannten Beklagten sind:
- Elsevier
- Wiley
- Springer Nature
- Taylor & Francis
- Wolters Kluwer
- SAGE Publications
- STM (International Association of Scientific, Technical and Medical Publishers)
Gemeinsam beherrschen diese Verlage den wissenschaftlichen Publikationsmarkt, kontrollieren über 50 % der peer-reviewten Fachzeitschriften und erwirtschaften jährlich über 10 Milliarden US-Dollar. Die Klage wirft diesen Organisationen vor, sich auf drei miteinander verknüpfte Regeln geeinigt zu haben, die den Wettbewerb unterdrücken und Arbeitskraft ausbeuten:
Vorwürfe
- Regel der unbezahlten Peer-Review
Laut Klageschrift haben sich die Beklagten darauf geeinigt, Peer-Reviewer nicht zu entlohnen – obwohl Peer-Review ein zentraler und zeitaufwändiger Bestandteil des wissenschaftlichen Publikationsprozesses ist. Reviewer sind in der Regel Professor:innen, Postdocs oder Forschende, die unbezahlte Arbeit leisten müssen, um ihre akademische Laufbahn voranzubringen.
Durch die Koordinierung dieser „Nullvergütungspolitik“ behauptet die Klägerin, dass die Verlage den Preis für Peer-Review-Arbeit auf 0 Dollar festgelegt haben, welches eine klassische Form der Lohndämpfung ist die nach dem Kartellrecht verboten ist. - Regel der Einzeleinreichung
Autor:innen dürfen ihre Manuskripte nur bei einer Zeitschrift zur gleichen Zeit einreichen. Bei Ablehnung müssen sie den Prozess bei einer anderen Zeitschrift von vorn beginnen. Laut Klage beseitigt diese Praxis den Wettbewerb zwischen Zeitschriften um hochwertige Manuskripte und ermöglicht es den Verlagen, Veröffentlichungen zu verzögern und gleichzeitig ihre Marktdominanz zu wahren. - Maulkorbregel
Verlage verbieten es Autoren, ihre eingereichten Arbeiten (z. B. über Preprint-Server, Konferenzen oder soziale Medien) zu teilen, bis eine Zeitschrift eine Entscheidung getroffen hat. Diese Einschränkung reduziert Transparenz, bremst den wissenschaftlichen Fortschritt und stärkt die Kontrolle der Verlage über den akademischen Diskurs.
Das US-Kartellrecht im Kontext
Die rechtliche Grundlage der Klage bildet Abschnitt 1 des Sherman Antitrust Act (15 U.S.C. § 1), der Absprachen zwischen Wettbewerbern verbietet, die den Handel einschränken. Die Klägerin behauptet, das Verhalten der Beklagten stelle dar:
- Horizontale Preisabsprachen (z. B. unbezahlte Arbeitsverträge)
- Produktionsbeschränkungen (z. B. Einzeleinreichungsregeln)
- Informationsunterdrückung (z. B. Publikationsmaulkorb)
Solche Absprachen – insbesondere die kollusive Lohnfestsetzung – werden traditionell als „per se rechtswidrig“ nach dem Kartellrecht betrachtet, d. h. sie gelten automatisch als illegal, ohne dass ein konkreter Wettbewerbsnachteil nachgewiesen werden muss.
Alternativ fordert die Klägerin, dass das Gericht die „rule of reason“ anwendet, bei der die tatsächlichen Auswirkungen des Verhaltens auf den Wettbewerb untersucht werden. Beide Ansätze könnten erhebliche rechtliche Konsequenzen für die Beklagten haben, wenn eine koordinierte Absprache nachgewiesen wird.
Definition und Reichweite der Sammelklage
Die Klage strebt die Anerkennung einer landesweiten Sammelklage an, die sich auf folgende Gruppe bezieht:
„Alle in den Vereinigten Staaten lebenden Personen, die seit dem 12. September 2020 Manuskripte eingereicht oder Peer-Reviews für eine Zeitschrift durchgeführt haben, die im Besitz der beklagten Verlage ist.“
Angesichts des Umfangs des akademischen Publikationssystems könnte diese Gruppe potenziell Hunderttausende von Forscher:innen, Doktorand:innen und Hochschulangehörigen umfassen.
Geforderte Rechtsmittel
Die Klage fordert vom Gericht folgende Maßnahmen:
- Dreifacher Schadenersatz (gemäß dem Clayton Act für private Kartellrechtskläger)
- Einstweilige Verfügung zur Aufhebung der drei angefochtenen Regeln
- Anerkennung als Sammelklage gemäß Regel 23 der Bundeszivilprozessordnung
- Anwaltskosten und Gerichtskosten
Wird die einstweilige Verfügung gewährt, könnten die Verlage gezwungen werden, Mehrfacheinreichungen zuzulassen, Peer-Reviewer zu bezahlen und die Maulkorbregeln vor Veröffentlichung aufzuheben. Dies könnte das Geschäftsmodell des wissenschaftlichen Publizierens tiefgreifend verändern.
Warum dieser Fall wichtig ist
Das wissenschaftliche Publizieren steht im Zentrum der Wissensproduktion und -verbreitung. Doch das derzeitige System scheint stark auf unbezahlte akademische Arbeit, intransparente redaktionelle Prozesse und hohe Abonnementgebühren angewiesen zu sein. Der Fall Uddin könnte eine längst überfällige Abrechnung erzwingen: Sind diese Praktiken das Ergebnis effizienter Marktmechanismen oder einer koordinierten Marktverzerrung?
Dieser Fall wird testen, wie das US-Kartellrecht auf intellektuelle Arbeitsmärkte anwendbar ist, ein Bereich, der in den letzten Jahren zunehmend unter Beobachtung geraten ist, einschließlich Durchsetzungsmaßnahmen des Justizministeriums gegen No-Poach- und Lohnabsprachen in anderen Branchen.