EU-Kartellrechtsdurchsuchungen im Impfstoffsektor

Unannounced antitrust inspections in the vaccines sector

Am 30. September 2025 veröffentlichte die Europäische Kommission dass unangekündigte kartellrechtliche Nachprüfungen bei einem im Impfstoffsektor tätigen Unternehmen durchgeführt wurden. Sie äußerte Bedenken hinsichtlich eines möglichen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung durch ausschließende Praktiken, die einer wettbewerbswidrigen Herabsetzung gleichkommen könnten. Selbstverständlich gelten die üblichen Vorbehalte bei Durchsuchungen: Eine „Dawn Raid“ ist ein erster Schritt zur Sachverhaltsermittlung, sie bedeutet keine Schuld und die Ermittlungen unterliegen keiner gesetzlichen Frist.

Die Durchsuchung setzt jedoch einen klaren Durchsetzungstrend in der Life-Sciences-Branche fort. Bereits 2024 hatte die Kommission in zwei prominenten Pharmaverfahren Anklage erhoben oder Abhilfemaßnahmen erzielt (Teva Copaxone – AT.40588 und Vifor – AT.40577).

Bedeutung der Maßnahme

  • Eine Durchsuchung signalisiert, dass die Kommission zumindest hinreichende Anhaltspunkte für einen möglichen Verstoß hat und nun Dokumenten- bzw. elektronische Beweise sichern will. Dawn Raids sind störend und können die Situation rasch eskalieren lassen.

  • Die Kommission untersucht keine gewöhnliche geschäftliche Kritik. Vielmehr weist sie auf potenzielle Praktiken hin, die als wettbewerbswidriges (ausschließendes oder ausbeuterisches) Verhalten gewertet werden könnten und nach Auffassung der Kommission in den Anwendungsbereich des Artikels 102 AEUV als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung fallen.

Art. 102 AEUV

Artikel 102 AEUV verbietet es einem Unternehmen, das auf einem relevanten Markt eine beherrschende Stellung innehat, diese Stellung zu missbrauchen. Der Missbrauch kann viele Formen annehmen, wie etwa exklusive Liefervereinbarungen, Preisgestaltung, Lieferverweigerungen, Koppelungsgeschäfte, Ausbeutung von Kunden usw. Die zentrale Rechtsfrage in jedem Verfahren nach Art. 102 AEUV ist, ob das Verhalten ausschließenden Charakter hat (d. h. Wettbewerber bzw. den Wettbewerb schädigt) oder ausbeuterisch ist (d. h. Kunden direkt über Preise oder Konditionen schädigt) und ob eine objektive Rechtfertigung fehlt. Abhilfemaßnahmen und Sanktionen unterscheiden sich je nach Art und Schwere des Missbrauchs.

Der Fall Vifor Pharma (AT.40577)

Die Europäische Kommission untersuchte Vifor Pharma wegen eines möglichen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung auf nationalen Märkten für intravenöses Eisen (IV-Eisen), insbesondere aufgrund einer Kampagne, die das Konkurrenzprodukt Monofer (Pharmacosmos) aus Sicherheitsgründen herabsetzte.

Die vorläufige Auffassung der Kommission war, dass Vifor zwei zentrale, potenziell objektiv irreführende Botschaften an medizinische Fachkräfte verbreitet hatte:

  1. Monofer sei ein „Dextran“ (was historische Dextran-Sicherheitsrisiken implizieren sollte), und

  2. Monofer berge ein höheres Risiko für Überempfindlichkeitsreaktionen als Vifors Ferinject.

Diese Aussagen hielt die Kommission für unzutreffend bzw. unvollständig und geeignet, Verschreiber zu verwirren.

Anstelle eines Verstoßfeststellungsbeschlusses oder einer Geldbuße akzeptierte die Kommission die von Vifor angebotenen Verpflichtungen (Beschluss vom 22. Juli 2024). Vifor verpflichtete sich zu einer wiederherstellenden, mehrkanaligen Stakeholder-Kommunikation, um irreführende Eindrücke zu korrigieren, interne Compliance-Maßnahmen einzuführen und über einen Zeitraum von zehn Jahren auf externe werbliche bzw. medizinische Aussagen zur Sicherheit von Monofer zu verzichten, neben weiteren Auflagen. Auf dieser Grundlage machte die Kommission die Verpflichtungen verbindlich und schloss das Verfahren ohne Haftungsfeststellung ab.

Der Fall ist ein prominentes Beispiel dafür, dass die Kommission herabsetzende bzw. irreführende Produktkommunikation im Pharmabereich unter Artikel 102 AEUV prüft und dass sie weitreichende kommunikative Abhilfemaßnahmen verlangen kann, anstelle oder im Vorfeld einer Geldbuße.

Der Fall Teva Copaxone (AT.40588)

Die Europäische Kommission untersuchte Teva wegen des mutmaßlichen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Markt für Glatirameracetat (Copaxone) durch (i) Missbrauch des Patentsystems (Strategie mit Teilanmeldungen und damit verbundene Prozessführungstaktiken) sowie (ii) eine systematische Herabsetzungskampagne gegen ein Konkurrenzprodukt (Synthon’s Glatirameracetat).

Die wesentlichen Feststellungen der Kommission:

Missbrauch des Patentsystems:
Teva habe Teilpatente erlangt und deren Durchsetzung (z. B. durch einstweilige Verfügungen) angedroht, um den Markteintritt von Generika bzw. Wettbewerbern zu verzögern.

Herabsetzung:
Koordinierte Verbreitung irreführender oder negativer Informationen über die Sicherheit bzw. Wirksamkeit eines Konkurrenzprodukts (oft über Dritte), um Ärzte oder Behörden zu beeinflussen und Wettbewerber am Markteintritt zu hindern.

Die Kommission stellte einen Verstoß gegen Artikel 102 AEUV fest und verhängte gegen Teva eine Geldbuße von 462,6 Millionen €. Teva erklärte, es sei mit der Entscheidung nicht einverstanden und beabsichtige, Rechtsmittel einzulegen.

Fazit

  1. Falsche oder irreführende Kommunikation kann ausschließende Wirkungen entfalten. Der Fall Vifor zeigt, dass die Kommission irreführende Kommunikation als wettbewerbswidriges Instrument einstuft. Der Fall Teva zeigt, dass die Kommission solche Kommunikation ahndet, wenn sie Teil einer umfassenderen Strategie zur Markteintrittsverzögerung ist. Die Durchsuchung im Impfstoffsektor lässt vermuten, dass die Kommission annimmt, ähnliche Praktiken könnten auch in diesem Markt vorgekommen sein.
  2. Das Instrumentarium der Kommission ist flexibel. Sie kann Geldbußen verhängen (wie bei Teva), wenn sie einen hinreichend schweren und nachgewiesenen Missbrauch feststellt, oder Verpflichtungszusagen annehmen (wie bei Vifor), wenn diese die Bedenken wirksam und zügig ausräumen. Beide Maßnahmen stehen während eines laufenden Ermittlungsverfahrens zur Verfügung.
  3. Dawn Raids sind Routine. Die Kommission nutzte unangekündigte Nachprüfungen bereits im Fall Teva und wendet sie nun erneut im Impfstoffsektor an. Es ist davon auszugehen, dass die Ermittler auf die Sicherung von IT-Daten und Dokumenten setzen, um sich ein Bild von internen Strategien, Marketingplänen, regulatorischen Einreichungen und externen Kommunikationsvorgängen zu machen. Die öffentlichen Stellungnahmen der Kommission betonen jedoch, dass solche Nachprüfungen vorläufiger Natur sind und keine Vorwegnahme des Ergebnisses darstellen . Sie erhöhen jedoch den taktischen Druck auf die betroffenen Unternehmen.
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